Donnerstag, 31. Januar 2013

Das Recht auf Selbstbestimmung


Juristische Analyse der Kommission zur Verteidigung der Rechte des Einzelnen der Anwaltskammer von Barcelona

Im Laufe ihrer fast vierzigjährigen Geschichte versuchte die Kommission zur Verteidigung der Rechte des Einzelnen der Anwaltskammer von Barcelona sich stets an allen Debatten gesellschaftlicher und juristischer Transzendenz zu beteiligen, die in unserem Land stattgefunden und die fundamentalen Rechte des Einzelnen sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene betroffen haben. In der jetzigen Situation, in der sich das katalanische Volk vor der Herausforderung sieht, Entscheidungen zu treffen, welche seine Zukunft als Nation bestimmen, kann und darf die Kommission nicht abwesend sein in jenem intensiven Diskurs, der sich rund um das Recht auf Selbstbestimmung entfaltet hat. Deswegen möchte die Kommission hiermit ihre Position in dieser Angelegenheit formulieren, selbstverständlich innerhalb eines juristischen Rahmens, der ihr eigen ist.

Zunächst wollen wir festhalten, dass das Recht auf Selbstbestimmung ein fundamentales und universelles Recht aller Völker ist, gültig nach dem Internationalen Recht, wie es in der Charta der Vereinten Nationen definiert wird (Art. 1 und 55). Zudem befindet sich dieses Recht ausdrücklich in Artikel 1 sowohl des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte als auch des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1966 verabschiedet und in Kraft seit 1976. Praktisch gesehen jedoch war dieses Selbstbestimmungsrecht bereits lange vorher international anerkannt. Beispiele hierfür sind etwa die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten oder die Entstehung neuer Staaten nach der Auflösung des österreichisch-ungarischen, des osmanischen oder auch des russischen Reiches nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts hat dazu geführt, dass sich die Anzahl souveräner Staaten seit 1900 vervierfacht hat. Zwanzig dieser neuen Staaten sind das Resultat der Abspaltung eines Teils eines Staates um einen anderen zu gründen. In Europa gab es seit 1900 vierzehn Fälle einer solchen Abspaltung: Norwegen von Schweden (1905), Finnland von Russland (1917), Irland vom Vereinigten Königreich (1922), Island von Dänemark (1944), Litauen, Estland und Lettland von der Sowjetunion (1990-1991), Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina von Jugoslawien (1991), die Slowakei von der Tschechoslowakei (1992), Montenegro von Serbien und Montenegro (2006) und der Kosovo von Serbien (2008). Der Prozess der Selbstbestimmung und der Entstehung eines neuen souveränen Staates ist in jedem dieser Fälle unterschiedlich gewesen - verfassungsrechtliche Vorhersehung, ausgehandelte Abtrennung oder, in den meisten Fällen, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung -, aber in allen Fällen ging die letztendliche Legitimierung des Prozesses von einer mehrheitlichen Entscheidung des Volkes aus, so wie sie frei und demokratisch in einem Referendum ausgedrückt wurde.

Eine relativ restriktive Sichtweise des Internationalen Rechts sieht das Selbstbestimmungsrecht nur in Entkolonialisierungsprozessen vor. Zwar gibt es einen in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen klar definierten, internationalen juristischen Rahmen, welcher die Bedingungen und den Prozess zur Ausübung dieses Rechts durch kolonialisierte Völker definiert. Andererseits ist dieser juristische Rahmen jedoch nicht genügend für nichtkoloniale Sezessionsszenarien bestimmt. Dennoch ist diese fehlende Regulierung zur Ausübung dieses Rechts nicht gleichbedeutend mit der Nicht-Existenz eines solchen Rechts in bestimmten Fällen. Darüberhinaus hat sich der Internationale Gerichtshof von Den Haag in einem Gutachten zur Mauer in den belagerten Palästinensischen Autonomiegebieten im Jahre 2004 ausdrücklich zugunsten der Selbstbestimmung als internationalem Recht ausgesprochen, welches von allen Staaten respektiert werden muss. Zudem hat der Gerichtshof von Den Haag in der äußerst bedeutungsvollen Resolution vom 22. Juli 2010 als Antwort auf ein Ersuchen der UN Generalversammlung zur Konformität der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Kosovos am 17. Februar 2008 mit dem Internationalen Recht, erklärt, dass es in diesem keine Norm gibt, die einseitige Unabhängigkeitserklärungen verbietet. Aus diesem Grunde müssen solche Erklärungen als konform mit der internationalen Gesetzgebung gesehen werden.
Im konkreten Fall Kataloniens wird die Möglichkeit der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts allerdings abgelehnt, von Seiten sowohl der Regierung als auch der Mehrheit der Institutionen des spanischen Zentralstaats, die sich sogar einer Volksabstimmung in dieser Frage strikt entgegenstellen. Die Argumente für diese kategorische Ablehnung lassen sich im Grunde auf zwei reduzieren. Zum Einen heißt es, die Volkssouveränität ruhe in der Gesamtheit der Bürger des spanischen Staates. Diesem Argument zufolge obliegt das Recht, über eine Abtrennung Kataloniens vom Rest des Staates zu entscheiden also nicht nur dem katalanischen Volke, da es kein souveränes politisches Subjekt darstelle. Zum Anderen wird behauptet, eine Abtrennung Kataloniens vom spanischen Staat sei, in jedem Fall, illegal, da dies gegen die gültige Gesetzgebung und, konkreter, gegen die spanische Verfassung verstoße, welche das Recht auf Selbstbestimmung keines der Gebiete des Staates anerkenne, und in Artikel 2 "die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier" definiere.

Was nun das erste Argument anbelangt, so ist es offensichtlich, dass das katalanische Volk, wäre es ein souveränes Subjekt, schon längst unabhängig wäre. Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, ob das katalanische Volk die nötigen Bedingungen erfüllt, um das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt zu bekommen, das heißt, ob es die Bedingungen eines Volkes erfüllt, das in der Lage ist, sich als souveräner Staat zu emanzipieren. In diesem Sinne muss daran erinnert werden, dass die Charta der Vereinigten Nationen als auch die vorher erwähnten Internationalen Pakte den Völkern, und nicht den Staaten das Entscheidungsrecht zuerkennen. Deshalb kann man auch kaum, den Status der katalanischen Gemeinschaft als politisches Subjekt mitsamt Entscheidungsrecht leugnen: eine Jahrtausend alte Geschichte, eine eigene Sprache, ein eigenes Zivilrecht, eine differenzierte soziale und wirtschaftliche Struktur, eigene politische Institutionen als auch den über die Jahrhunderte hinweg geäußerten Willen, die eigene Identität aufrecht zu erhalten, bürgen reichlich für die nationale Realität Kataloniens, wie sie andererseits auch im Präambel des Autonomiestatuts anerkannt wurde (selbst in der vom obersten Gerichtshof geschröpften Version).

Der aktuelle verfassungsrechtliche Rahmen in Spanien erkennt die Möglichkeit einer Selbstbestimmung Kataloniens nicht an. Deswegen sehen wir uns also einem möglichen Widerspruch zwischen zwei Rechtmäßigkeiten wieder: das spanischen Verfassungsrecht einerseits und der demokratisch ausgedrückte Willen einer nationalen Gemeinschaft andererseits. Vergessen wir aber nicht, dass das Gesetz in einer demokratischen Gesellschaft nichts Anderes ist als der Ausdruck des Willens des Volkes mittels seiner politischen Stellvertreter. Diese grunddemokratische Auffassung kann eine Beschlagnahme des Volkswillens (in diesem Fall durch das Parlament von Katalonien vertreten) im Namen einer aufgezwungenen Legalität nicht hinnehmen. In einer demokratischen Gesellschaft - im Gegensatz zu einer Diktatur- ist es nicht das Gesetz, welches den Willen der Bürger bestimmt, sondern, im Gegenteil, ist es dieser Wille, welcher den legalen Rahmen schafft und verändert. Aus diesem Grunde sind wir der Ansicht, dass die spanische Regierung nicht das Recht besitzt, sich jenem Entschluss des katalanischen Parlaments entgegenzustellen, welcher vorsieht, den Bürgern Kataloniens die Entscheidung über die Gründung eines unabhängigen katalanischen Staates zu übertragen, damit das Volk auf freie und mehrheitliche Weise seinen Willen ausdrückt, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Im Falle einer positiven Antwort auf die Frage hätte die spanische Regierung keinerlei Legitimität sich jenem Verhandlungsprozess entgegen zu setzen, welcher die Bedingungen einer Abtrennung bestimmen und die komplexen Folgen ebendieser in beidseitigem Einverständnis klären soll. Des Weiteren müsste die Regierung die nötigen verfassungsrechtlichen und legalen Veränderungen in die Wege leiten, damit der Prozess geordnet und gerecht zugehen kann. Dies entspricht dem vom Obersten Gerichtshof von Kanada definierten Kriterium zur Gültigkeit des sezessionistischen Referendums in Quebec im Jahre 1995. In seinem Gutachten von 1998 hält das Gericht fest, dass eine deutlich ausgedrückte Mehrheit zu einer klar gestellten Frage einer sezessionistischen Initiative demokratische Legitimität verleiht und die Regierung Kanadas dazu verpflichtet, die Bedingungen der Abspaltung auszuhandeln.

Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung, verkündet vom Parlament von Katalonien, wäre im Internationalen Recht gerechtfertigt, sollte die spanische Regierung die Abhaltung einer Volksabstimmung zur Gründung eines neuen Staates verhindern oder sich weigern, das Resultat eines solchen Referendums anzuerkennen. In diesem Falle hätte eine Unabhängigkeitserklärung von Seiten des Parlaments eine unverzügliche Wirkung um dem neuen Staat einen politischen Rahmen zu verleihen. In der Tat würde ein solcher Staat alle nötigen Mindestkriterien erfüllen, die zum ersten Mal anlässlich der Konvention von Montevideo zu den Rechten und Pflichten der Staaten am 26. Dezember 1933 definiert wurden: eine ständige Bevölkerung, ein klar abgegrenztes Gebiet sowie eine eigene politische Autorität. Die gleiche Konvention hielt fest, dass die politische Existenz eines Staats unabhängig von der Anerkennung der restlichen Staaten ist. Dieses Prinzip, gemeinhin bekannt als Völkergewohnheitsrecht, wurde von der Badinter-Kommission am 27. September 1991 ratifiziert. Bei der Badinter-Kommission handelt es sich um eine Schiedskommission, die von der Europäischen Gemeinschaft gegründet wurde um juristische Antworten auf die rechtlichen Fragen zu finden, die nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens aufgeworfen wurden. In ihrem Gutachten hält die Badinter-Kommission fest, dass die Anerkennung von Seiten der internationalen Gemeinschaft eine notwendige Bedingung für die Staatlichkeit ist.

Die entscheidende Frage zur juristischen Legitimität einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung im Falle eines Widerspruchs zu einem gültigen rechtlichen Rahmen wurde in der bereits erwähnten Resolution des Internationalen Gerichtshofs von Den Haag im Falle Kosovos gelöst. Die Resolution hält fest, dass die kosovarische Versammlung anlässlich der Verkündung Kosovos als unabhängigem Staat nicht als Institution im Rahmen einer präexistenten Verwaltung und innerhalb der Grenzen dieser Legalität handelte, sondern, im Gegenteil, sich außerhalb dieser Legalität befand und ausschließlich kraft der Befugnisse handelte, die ihr vom Volke zugeteilt wurden. Bei der Unabhängigkeitserklärung ging es also nicht darum innerhalb des gegebenen rechtlichen Rahmens zu wirken, sondern eine neue Legalität zu schaffen. Da es im Internationalen Recht also keine Norm gibt, die dies verbietet, hält das Gericht fest, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung der kosovarischen Versammlung gegen keinen internationalen juristischen Rahmen verstößt, zumal ein Verhandlungsprozess mit Serbien unmöglich erscheint.

Auf Grundlage der angegebenen juristischen Argumente erwägt die Kommission zur Verteidigung der Rechte des Einzelnen der Anwaltskammer von Barcelona, dass die Möglichkeit über die eigene Zukunft entscheiden zu können ein unveräußerliches Recht der Katalanen als nationale Gemeinschaft ist, sei es nun innerhalb des aktuellen Staates oder im Sinne einer Abspaltung als neuer souveräner Staat, je nachdem wie die Bürger Kataloniens mehrheitlich, demokratisch und friedlich entscheiden.

Die Kommission zur Verteidigung der Rechte des Einzelnen der Anwaltskammer von Barcelona

Barcelona, Januar 2013

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