Der wachsende Ruf der Katalanen nach
Unabhängigkeit von Spanien ist in vielen Medien ein Anlass für sehr negative
Kommentare. Die Katalanen die sich von Spanien trennen wollen, sollen verrückt,
egoistisch und ewiggestrig sein; ihr Ministerpräsident, ein Opportunist, der mit dem Unabhängigkeitsthema von seiner
miserablen Politik ablenken will. Die Trennung, sagen diese Kassandrastimmen,
wäre eine Katastrophe sowohl für Katalonien wie für Spanien. Die meisten
ausländische Korrespondenten geben ihren Lesern die spanische Version der
Ereignisse weiter, die leider allzuoft die wirklichen Fakten ignoriert. Der
katalanische Gesichtspunkt, egal wie er gut begründet sei, bleibt meistens
unberücksichtigt.
Diese Linien sind ein Versuch, den Kritikern
eine Art Denkbrücke zu bauen, sodass sie das Problem besser verstehen können. (Dabei
ist z.B. der oft zitierte Vergleich mit Bayern und der ehemaligen deutschen
Kleinstaaterei vollkommen abwegig).
Dafür möchte ich meine abgeneigten Leser
bitten, mir in einer Übung in „Geschichte-Fiktion“ zu folgen, die, so verrückt
sie erscheinen möge, meines Erachtens den Nagel auf den Kopf trifft. Lassen Sie
ihre historische (und sogar geographische) Unwahrscheinlichkeit beiseite, und
stellen Sie sich folgender Szenario vor:
-Vor 500 Jahren, und aufgrund dynastischer
Verwicklungen konföderiert sich ein Königreich Deutschland mit dem russischen
Reich. Deutschland und Russland haben denselben König, aber Deutschland behält
weiter seine selbständigen Institutionen.
-Vor 300 Jahren, aus welcher Grund auch immer,
fällt die russische Armee in Deutschland ein, Berlin fällt nach langer
Belagerung, ein Teil der Stadt wird dem Erdboden gleich gemacht und auf dem Areal
wird eine mächtige Zitadelle gebaut, um möglichen Aufständen der unbotmässigen Untertanen vorzubeugen. Alle
deutschen Institutionen gleich welcher Art werden aufgelöst und Deutschland
wird eine einfache Provinz Russlands. Der öffentliche Gebrauch der deutschen
Sprache wird verboten und alle deutschen Universitäten geschlossen. Es wird nur
eine neu gegründete Universität erlaubt, mit Sitz in Celle (oder in Kempten,
oder Görlitz). Lehrsprache ist hier wie in den Schulen fortan nur russisch.
-Nach einer leid- und wechselvollen Geschichte
und nach einer strengen Diktatur kommt ein Wechsel zur Demokratie, und die
Deutschen hoffen durch eine neue Autonomie ihre Freiheit, ihre eigenen Institutionen,
dern unbehinderten Gebrauch ihrer Sprache und einen gleich-berechtigten Platz
im russichen Staatsverband zu finden.
Dreissig Jahre später ergibt sich aber
folgende Situation:
-Deutschland muss sämtliche Steuereinnahmen
nach Moskau liefern. Die Summe, die von Moskau zurückkommt, muss immer wieder
neu verhandelt werden. Die Differenz zwischen abgeführten Einnahmen und
zurückbekommenen Geldern, übersteigt 8 % des deutschen BIP und entkapitalisiert
das Land. Aus diesem Grunde und um ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen zu
können, muss sich die deutsche autonome Regierung unverhältnismässig verschulden.
-Die Deutschen stellen fest, dass mit dem
ihnen entzogenen Geld eine Aufblähung der russischen Bürokratie und ökonomisch
unsinnige Projekte finanziert werden (Geister-flughäfen, leere Autobahnen,
Hochgeschwindigkeitszüge mit katastrophalen Benutzerzahlen, etc.).
-Jede deutsche Massnahme, die Normalität der
deutschen Sprache in Deutschland wieder zu erreichen, wird als totalitäre,
verbohrte und fremdenfeindliche Massnahme deklariert, während das russische weiterhin
alle Privilegien geniesst. Laut Verfassung „kann“ Deutsch gelernt werden;
Russisch „muss“ gelernt werden. Bildungspolitik wird grösstenteils weiter von
Moskau diktiert.
-Kein russischer Beamte, der in Deutschland
arbeitet, muss Deutsch können, also z.B. weder Richter noch Polizisten, noch
Finanzbeamten. Das heisst, wenn man in Frankfurt, in Baden oder in Leipzig in
der nächsten Polizeiwache einen Diebstahl melden will, muss man es fast immer
auf russisch tun, um überhaupt verstanden zu werden.
Die Liste könnte viel länger sein, aber belassen
wir es dabei. Und dann kommt meine Frage:
Wenn in einen solchen Szenario Deutsche (sehr
viele Deutsche) sich gegen solche Zustände auflehnen und für die Unabhängigkeit
Deutschlands, weg vom russischen Reich, massenhaft demonstrieren würden, würden
Sie auch diese Deutschen als bornierte, egoistische, ewiggestrige Idioten
bezeichnen?
Es gibt einen alten Spruch: Nur derjenige der
den Schuh anhat, weiss wo er drückt. Und man kriegt keine 1,5 Millionen auf die Strasse, nicht mal ein
Zehntel davon, wenn der Druck nicht ganz gewaltig ist.
***
Über den
Autor: Pere Grau
Barcelona,
1930*. Lebt seit 1960 in Hamburg. Volkswirt. Schriftsteller (verschiedene
Lyrikpreise). Mitarbeiter (ehrenamtlich) der katalanischen Philologiezeitschrift
„Llengua Nacional“ und der Onlinezeitung „El Matí Digital“.
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